Geschichte des Herrn William Lovell by Tieck Ludwig

Geschichte des Herrn William Lovell by Tieck Ludwig

Autor:Tieck, Ludwig
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: (Privatkopie)
veröffentlicht: 2010-02-02T16:00:00+00:00


9

Rosa an William Lovell

Rom.

Ich kann Ihre Frage nicht so beantworten, lieber Freund, daß Sie mit meiner Antwort zufrieden sein werden. Die Gedanken und Empfindungen drehen sich im Menschen wie zwei Zirkel herum, die sich in einem Punkte berühren, an diesem wissen wir nicht zu unterscheiden, was Idee und Gefühl ist, und wir halten uns dann für vollendet. Die Zirkel drehn sich weiter, und wir glauben uns dann wieder verständiger, weil wir beides zu sondern wissen. Der Mensch ist sich selbst so rätselhaft, daß er entweder gar nicht über sich nachdenken, oder aus diesem Nachdenken sein Hauptstudium machen muß: wer in der Mitte stehenbleibt, fühlt sich unbefriedigt und unglücklich. – Ich sinne oft dem Gange meiner Ideen nach, und verwickele mich nur um so tiefer in diese Labyrinthe, je mehr ich nachsinne. So viel ist gewiß, daß wir gewöhnlich viel zu sehr den gegenwärtigen Moment vor Augen haben, und darüber unser ganzes voriges Leben außer acht lassen; die gegenwärtige Empfindung verschlingt alle früheren, und die jetzige Idee macht, daß uns alle vorhergehenden nicht mehr als Ideen, sondern als kindische ungeschickt entworfene Skizzen erscheinen. Daher leugnen wir uns so oft unsre innerste Überzeugung ab; und so wie der Mörder den noch halbbelebten Leichnam ängstlich mit Erde bedeckt, so verscharren wir mutwillig Empfindungen, die sich in uns zum Bewußtsein emporarbeiten wollen. – Oh, wenn wir doch Teleskope erfinden könnten, um in das tiefe Firmament unsrer Seele zu schauen, die Milchstraße der Ahndungen zu beobachten, die nie unserm eigentlichen Geiste näherrücken, sondern wie Nebelflor die Sonne in uns verdunkeln, ohne daß man sagen kann: jetzt geschieht es!

Die Träume sind vielleicht unsre höchste Philosophie, die Schlüsse der Schwärmer sind für uns deswegen vielleicht unverständlich und lückenvoll, weil wir es nicht begreifen, wie in ihnen Vernunft und Gefühl vereinigt ist. So kömmt mir das jetzt ehrwürdig vor, was ich noch vor einem halben Jahre belachte, und ich möchte jetzt manchmal über das lächeln, was mir damals so wichtig erschien. – Es ist nichts in uns Festes, lieber William, mit unsrer veränderten Nahrung werden wir andere Menschen; je nachdem unser Blut schnell oder langsam fließt, sind wir ernsthaft oder lustig; sollten alle diese Erscheinungen von gar keinem Gesetze in oder außer uns abhängen, wie wenig Wert hätten dann die jedesmaligen Resultate! – Doch oft scheint das äußerlich Zufall, was eine lange berechnete innerliche Notwendigkeit war; und so gleicht der Mensch vielleicht den Trauerspielen Ihres Shakespeare, wo, wie Sie mir selber gesagt haben, der Schluß so oft von einem plötzlich eintretenden Vorfalle abzuhängen scheint, da er doch schon in den ersten Versen des Stücks, in allen Kombinationen gegründet liegt, und daher notwendig war.

Wir übersehn immer nur die Stelle unsers Lebens, auf der wir stehn, und alle unsre Gedanken, Empfindungen und Handlungen sind nur auf dieser Stelle einheimisch, jeder steht anders, alle Gesinnungen brechen sich in verschiedenen Richtungen, und laufen nur für den geradeaus, in dem sie sind; daher wollen wir, wenn wir nichts anders sein können, nachsichtig sein, und nicht den Nachbar beurteilen und tadeln, der uns von unserm Standpunkte vielleicht in einer seltsamen Verkürzung erscheint.



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